Die einen verspotten Temu als Ramschplattform mit fragwürdigen Marketinginstrumenten, für andere wiederum ist es eine neue Form des Verkaufens, die mit einer Vielzahl an Marketing-Triggern und Kampfpreisen nach Deutschland und Europa kommt. Klar ist aber bereits rund ein Jahr nach dem Start in Europa, dass all das bei westlichen Kund:innen genauso verfängt wie im asiatischen Raum.
Jetzt wird bekannt: Temu plant nicht nur auf Kund:innenseite, sondern auch auf Händler:innenseite die Expansion in die westlichen Märkte. Wie zuerst die Nachrichtenagentur AP berichtet hat, plant die Plattform die Expansion in die USA und nach Europa. „Dieser Schritt wird unser bereits umfangreiches Warensortiment erweitern und unseren Kunden eine noch größere Vielfalt und Auswahl an erschwinglichen Produkten bieten“, erklärt das Unternehmen auf t3n-Anfrage eher allgemein. Interessant ist aber eine zweite Aussage, die etwas auf die Beweggründe schließen lässt: „Darüber hinaus werden wir durch den Versand von Waren aus lokalen Lagern die Lieferzeiten erheblich verkürzen und das Einkaufserlebnis durch eine schnellere und effizientere Abwicklung verbessern.“
Temu bereits knapp hinter dem Zweitplatzierten in Deutschland
Die Marktforscher:innen von Appinio haben ermittelt, dass inzwischen jede:r Vierte in Deutschland in der Altersgruppe von 16 bis 65 Jahren im letzten halben Jahr mindestens einmal bei Temu eingekauft hat. Auch wenn Amazon mit stolzen 86 Prozent hier unangefochten auf dem ersten Platz bleibt und wenn man annehmen kann, dass viele Temu aufgrund des großen Medienechos erst einmal ausprobiert haben, ist klar: Die Plattform aus China ist gekommen, um zu bleiben – und sie könnte den ähnlich gestrickten Mitbewerber:innen Shein, Wish und Alibaba Türen öffnen.
Empfehlungen der Redaktion
„Temu nähert sich ein Dreivierteljahr nach Markteintritt in Deutschland bereits den Zahlen von Otto (30 Prozent) und Ebay (44 Prozent) an“, fasst Appinio zusammen, was vielen Handelsexpert:innen schon insgeheim bewusst ist. Denn sowohl Amazon als auch die beiden Letztgenannten, aber vor allem auch andere Händler:innen mit dem Plattformgedanken werden in den nächsten Jahren Marktanteile an die chinesischen Mitbewerber:innen verlieren.
Dürfen Händler:innen aus Deutschland bald auch bei Temu verkaufen?
Händler:innen dürften all das mit gemischten Gefühlen beobachten. Denn sie finden mit der neuen Plattform einerseits eine veränderte Konkurrenzsituation vor, können aber auch bald selbst dort verkaufen, denn Temu öffnet die Plattform in absehbarer Zeit auch für westliche Verkäufer:innen. Bislang sind offenbar viele Details zu den Konditionen ebenso unklar wie der zeitliche Horizont, in dem das für bestimmte Märkte passiert.
Wie erfolgreich Temu bereits heute ist, belegen einige Zahlen. So hat die über die PDD Holding an der Nasdaq gelistete Gesellschaft 37 Milliarden Euro Umsatz und 8 Milliarden Euro Gewinn generiert. Wieviel davon auf das Konto von Pinduoduo, der Gesellschaft hinter Temu geht, lässt sich nicht sicher beziffern. Analyst:innenenschätzungen gehen von rund 16 Milliarden Euro Umsatz weltweit und rund einer Milliarde Umsatz in Deutschland aus.
Das Marktforschungsunternehmen Marketplace Pulse schätzt, dass Temu derzeit mehr als 100.000 Händler in China hat, die Waren auf der Plattform verkaufen. Fabriken fungieren dabei als Direktvertrieb und liefern ihre Produkte an Temu-Lager in China, die dann direkt an Verbraucher:innen in den USA und anderen Ländern geliefert werden. Der Verzicht auf Zwischenhändler:innen sei, so Temu auf Nachfrage, der entscheidende Grund, warum Temu so günstig sein könne. Doch Vorwürfe (und ein entsprechendes Gerichtsverfahren) legen nahe, dass auch auf Händler:innen Druck ausgeübt wird. Temu hat sich zudem in den letzten Monaten einen erbitterten Rechtsstreit mit Shein geliefert, das in den letzten Jahren auch bei den Verbraucher:innen an Popularität gewonnen hat.
Auch wenn offensichtlich ist, dass es vor allem klassische Plattformen wie Amazon Marketplace und Ebay sein werden, die unter dem Hinzukommen von Temu leiden, ist offen, was diese dem entgegenzusetzen haben – und wie stark die Einschnitte für jene Plattformen werden. Ebay hat gerade bekannt gegeben, dass man noch im Januar 1.000 Mitarbeitende entlassen werde: das entspricht immerhin jedem:r elften Vollzeitbeschäftigten. Auch der Präsenzhandel in den USA, hier vor allem One-Dollar-Shops und Postenmärkte, leiden offenbar bereits unter Temu.
Temu-Händler:innen werden Lieferketten- und Zollgesetze einhalten müssen
Doch bemerkenswert ist – neben der Frage, wie korrekt das Thema Besteuerung und Zoll gehandhabt wird – noch ein weiterer Sachverhalt: In der EU werden Händler:innen im Rahmen des Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes in vielen Fällen sehr genau auf Lieferketten überprüft. Hier wird sich spätestens mit dem Markteintritt europäischer Händler:innen zeigen müssen, wie genau Temu diese europäischen Verpflichtungen nimmt und inwieweit der Gesetzgeber hier Verstöße ahndet. Immerhin: Plattformen wie Ebay und Amazon schauen etwa bei den Steuerpflichten auch bei außereuropäischen Händler:innen inzwischen deutlich genauer hin als in der Vergangenheit.
Doch zurück zu der Warenvielfalt der Plattform. Hier werden, anders als beim vor allem auf Modeprodukte setzenden Shein (neben Bekleidung und Schuhen) auch Haushaltsartikel, Technikzubehör sowie Haustierbedarf und Gesundheitsprodukte alle Art verkauft. Expert:innen schätzen, dass mittlerweile bis zu 200.000 Temu-Pakete pro Tag nach Deutschland geliefert wurden. Doch der Siegeszug, so glauben auch die Expert:innen von Appinio, wird stark von der Kauferfahrung abhängen, die die Kund:innen mit den Produkten und der Lieferzuverlässigkeit machen. Punkten konnte Temu bisher vor allem in den Bereichen Produktvielfalt und Preis-Leistungs-Verhältnis mit einer positiven Bewertung von 83 beziehungsweise 70 Prozent. Weniger positiv werden die Produktqualität und die Lieferzeiten mit Zustimmungswerten von rund 50 bis 54 Prozent bewertet. Etwas besser wird mit 61 Prozent die Rückgabe- und Erstattungspolitik bewertet.