Der gebürtige Norweger Anders Indset ist Gründer, Investor, Buchautor und manchmal auch Rockstar. Als Ex-Profi-Handballer und früherer „Hard-Core-Kapitalist“ setzt der Wirtschaftsphilosoph auf positiven Fortschritt und eine in Werten verwurzelte Leistungskultur. In diesem Rahmen hat er mehrere Bestseller geschrieben. Indset kombiniert soziale und ökologische Überlegungen mit Marktwirtschaft und Kapitalismus und hat maßgeblich zur Konzeption der „Quantenwirtschaft“ beigetragen: einem neuen Wirtschaftsmodell, das vom World Economic Forum in Davos aufgegriffen wurde.
Dienstagmorgen und du stehst zwischen den Türmen der Frankfurter Skyline. Plötzlich surrt ein Schatten über deinen Kopf hinweg: Eine achtarmige Person fliegt mühelos zwischen den Wolkenkratzern hindurch. Schon aus regulatorischer Sicht ist das in Deutschland Science-Fiction pur. Doch anderswo, wo ‚gezukünftet‘ wird, scheint eine solche Zukunft schon realistischer. Die Technologie entwickelt sich derzeit so schnell, dass wir bald unsere körperlichen Grenzen neu definieren dürfen.
Wir gewinnen aktuell schon vier Monate Lebenszeit – pro Jahr
Ray Kurzweil gilt als Pionier auf den Feldern KI und Transhumanismus. Er spricht von der „Longevity Escape Velocity“, die die Geschwindigkeit beschreibt, mit der wir das menschliche Leben verlängern. Sie definiert eine hypothetische Situation, in der die verbleibende Lebenserwartung einer Person länger wird als die Zeit, die vergeht. Kurzweil erklärt, dass wir aktuell bereits vier Monate Lebensverlängerung pro Jahr gewinnen. Er prognostiziert, dass wir bereits bis 2029 in der Lage sein werden, für jedes Jahr, das wir älter werden, das Leben um ein Jahr zu verlängern. Die Unendlichkeit soll bis 2045 erreicht sein. Der britische Bioinformatiker Aubrey de Grey – auch wenn in seinen zeitlichen Aussichten etwas konservativer – unterstützt Kurzweils These. Er glaubt, dass der zeitliche Abstand zwischen der Geburt des ersten Hundertjährigen und der Geburt des ersten Tausendjährigen nur 10 Jahre betragen wird.
Wissenschaftler wie die deutsche Physikerin Sabine Hossenfelder kritisieren Kurzweils Thesen: sie seien spekulativ, sogar als wissenschaftlichen Humbug. Hossenfelder argumentiert, dass einige der Prognosen im Bereich der KI und Biotechnologie, einschließlich der Machbarkeit, den Tod bis 2045 zu überwinden, nicht ausreichend auf der aktuellen wissenschaftlichen Forschung basieren. Die Thesen von Kurzweil und Co. bauen auf der Erwartung eines exponentiellen Fortschritts und immer neuen Durchbrüchen auf. So ist heute noch nicht eindeutig auszumachen, wo die Grenzen des Möglichen liegen. Die letzten Jahrzehnte haben jedoch gezeigt, dass das, was einst als unmöglich galt, zunehmend plausibel wird.
Ein Beispiel: Technologien wie CRISPR verbessern menschliche Fähigkeiten über natürliche Grenzen hinaus: Die Genbearbeitungstechnologie ermöglicht es Wissenschaftlern, DNA mit beispielloser Präzision zu modifizieren und öffnet die Tür zur Heilung genetischer Krankheiten, zur Verbesserung körperlicher Fähigkeiten und sogar zur Verlängerung der menschlichen Lebensdauer.
Die Möglichkeit, DNA gezielt und effizient zu schneiden und zu bearbeiten, galt zuvor als nahezu unmöglich und unglaublich teuer. Dank der Arbeit von Wissenschaftlern wie Jennifer Doudna und Emmanuelle Charpentier revolutioniert CRISPR-Cas9 die Biotechnologie und Medizin und wir sehen, dass mit Tech-Unternehmen wie Single Technologies die Kosten kaum Herausforderungen darstellen.
Das menschliche Genom kostet nur noch 10 Dollar – ein Startup aus Schweden macht es möglich
Das schwedische Startup Single Technologies stellt in Aussicht, das menschliche Genom für 10 Dollar sequenzieren zu können. Lagen die Kosten für die Entschlüsselung des menschlichen Genoms beim Durchbruch 2003 bei knapp 3 Milliarden USD, konnte sie 2010 auf etwa 10.000 US-Dollar pro Genom gesenkt werden, heute sind es nur noch 1.000 US-Dollar. Bereits nächstes Jahr will Gründer Johan Strömqvist die Kosten auf 10 US-Dollar reduziert haben. Eines der Projekte des, ebenfalls schwedischen, Startups REGENERAR soll die Gehirnreparatur fördern: Ziel ist, mit der Genbearbeitungstechnologie CRISPR gesunde Gliazellen in Neuronen umzuprogrammieren, um so Schlaganfallpatienten zu heilen, deren Neuronen irreversibel geschädigt sind.
Sind wir grenzenlos, oder sind die Grenzen los?
Mit dem ‘Hacken’ der menschlichen Biologie, dem Verständnis der Genome und dem Zugang zu analogen, digitalen und quantenbasierten Computerkapazitäten, gestützt durch KI, stellen sich neue Fragen. Gibt es Grenzen? Welche Verschmelzungen aus der Natur durch das Verständnis und die Studien von anderen Tierarten wären möglich?
Zunächst geht es darum, Krankheiten zu heilen und Organe und Sinne wieder zu aktivieren. Sehen, hören, schmecken. Aber warum mit der Reaktivierung aufhören? Sobald wir diese Funktionen verstehen, wo sind die Grenzen?
In diesem Kontext schreitet auch die Forschung am menschlichen Gehirn voran. Elon Musks Neuralink präsentierte nun schon den zweites Patienten mit einer Gehirnimplantation. Noland Arbaugh, der im Januar 2024 nach einer Rückenmarksverletzung im Jahr 2016 einen Gehirnchip erhielt, kann nach sechs Monaten Beobachtung und Entwicklung eine Computermaus steuern und effektiv Multitasking betreiben. Bis Ende des Jahres sollen es zehn Patienten sein, sofern die US-amerikanische Arzneimittelbehörde die Genehmigung erteilt.
Elon Musk sieht die Schaffung von „Menschen-Upgrades“ als realistisches Szenario
Neuralink treibt die Erforschung und Steuerung des menschlichen Gehirns voran. Mit der neuen Gehirn-Computer-Schnittstelle (Brain-Computer-Interface) möchte Musk und sein Team Hunderttausenden dabei helfen, die Motorik wiederherzustellen, die Lebensqualität nach Schlaganfällen zu steigern und Krankheiten wie Alzheimer und MS zu kurieren.
Die Reaktivierung defekter Gehirnfunktionen ist nur der erste Schritt. Musk spricht bereits von möglichen Erweiterungen zu „Superkräften“ in zehn bis fünfzehn Jahren und fragt, warum man aufhören sollte, wenn die Fähigkeiten wiederhergestellt und die Bereiche und Funktionen im Gehirn verstanden wurden.
Ein neuer App-Store für Superkräfte?
Bereits im ersten Test, bei dem es noch um wenige Neuronen und eine vergleichsweise träge Kommunikation geht, wird der Neuralink per „Software-Update“ aktualisiert. Wo liegen die Grenzen, wenn wir diese Probleme lösen und alle Funktionen verstehen? Sehen wie ein Adler, hören wie ein Luchs, riechen wie ein Hund. Eine neuer App-Store für Superkräfte?
Musk sieht die Schaffung von „Menschen-Upgrades“ als realistisches Szenario. Sein Team schließt nicht aus, dass alle Menschen eines oder mehrere Neuralinks implantieren, um unterschiedliche Gehirnregionen anzusteuern und einen Datenaustausch zu ermöglichen.
Was übrig bleibt, ist dann (nur) das „Hard Problem of Consciousness“, das der Philosoph David Chalmers bereits 1995 adressierte. Auch Musk und sein Team beschäftigen sich mit den großen Fragen: Warum sind wir hier und wie funktioniert unser Innenleben ganzheitlich? Wie entstehen Gedanken und warum haben wir ein subjektives Gefühl, etwas zu sein? Wie entsteht also die Wahrnehmung über die eigene Wahrnehmung? Die „einfachen Probleme“, die mit aktuellen wissenschaftlichen Methoden und Theorien angegangen werden können, sind natürlich alles andere als einfach, aber das schwierige Problem bleibt zu erklären, warum und wie subjektive Erfahrungen aus neuronalen Prozessen entstehen.
Die Grenze zwischen therapeutischer Nutzung und der Gestaltung des perfekten Menschen ist dünn
Viele Fähigkeiten, die heute als „menschlich“ gelten – wie Aufmerksamkeit, Kognition, motorische Kontrolle, Emotionen sowie das Verständnis von Schlaf, Träumen und bewusster vs. unbewusster Verarbeitung – könnten in wenigen Jahren oder Jahrzehnten auch bei Robotern und in der KI abgebildet werden. Die große Frage bleibt unser Bewusstsein – oder Qualia, wie es in der Philosophie heißt. Auch hier folgen Marketing, Hype, viel Kapital und Ernüchterung aufeinander. Die letzten Jahre zeigen, dass der Raum des Unvorstellbaren immer kleiner wird. Die Grenze zwischen therapeutischer Nutzung und der Gestaltung des perfekten Menschen ist dünn und hat tiefgreifende Implikationen.
Sci-Fi verwandelt sich in Sci-Phi, Wissenschafts-Philosophie. Sie stellt die Menschheit vor ethische Dilemmata: von der Bearbeitung der Gene ungeborener Kinder zur Beseitigung von Krankheiten bis zur Manipulation gewünschter Fähigkeiten. Die bevorstehende technologische Entwicklung fordert eine philosophische Untersuchung der kommenden wissenschaftlichen und technologischen Tsunamis.
Letztendlich geht es um die Wahrnehmung unserer Wahrnehmung, um die Vitalität – die Lebendigkeit – und die sich ständig weiterentwickelnde Frage, was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Mit dem ‚Hacken‘ der menschlichen Biologie, dem Verständnis der Genome und dem Zugang zu analogen, digitalen und quantenbasierten Computerkapazitäten stellen sich neue Fragen. Gibt es Grenzen? Ist alles Mögliche immer auch erstrebenswert?
Wir räumen immer noch unsere Spülmaschine selbst ein
Wir räumen immer noch unsere Spülmaschine selbst ein und basteln in Powerpoint-Präsentationen herum, um Investoren zu überzeugen. Es wird wahrscheinlich doch noch eine Weile dauern, bis wir wie Marvel-Figuren über die Skyline von Frankfurt gleiten. Doch, in diesen Tagen scheint es, als würde vieles von dem, was einst unmöglich erschien, doch irgendwann Wirklichkeit werden – wir müssen es nur erschaffen. Eine schöne Zeit, um Gründer zu sein.