In Deutschland fehlen Hunderttausende von Pflegern, Köchinnen und Fahrern. Sie sollen unter anderem aus Ostafrika kommen. Eindrücke von einer Jobmesse in Kenyas Hauptstadt Nairobi.
Auf der Stirn von Marcel Schwarz sammeln sich zwei Stunden nach Messebeginn die Schweissperlen. Der Berater steht am Stand des Bildungswerks der Bayerischen Wirtschaft, vor sich ein Dutzend junger Kenyanerinnen und Kenyaner; die meisten Anfang bis Mitte 20, manche in Jacketts, sie greifen nach Broschüren und Haribo-Packungen, die der Wirtschaftsförderer Schwarz aufgelegt hat. Und sie hören konzentriert zu, wie Schwarz erklärt, was es denn brauche, um in Deutschland Arbeit zu finden. Im Gastgewerbe zum Beispiel oder in der Pflege – zwei Bereichen, in denen die bayrische und die deutsche Wirtschaft dringend Arbeitskräfte benötigen.
Gefragt, wie es laufe, schnauft Schwarz erst einmal durch. Schon seit zwei Stunden redet er sich den Mund fusselig. «Das Interesse ist wahnsinnig gross», sagt er. Schwarz ist extra aus Deutschland eingeflogen für diese Jobmesse, die die deutsche Botschaft und die deutsche Aussenhandelskammer in Ostafrika am vergangenen Freitag in Kenyas Hauptstadt Nairobi ausgerichtet haben. «Mir fällt vor allem auf», sagt Marcel Schwarz, «dass viele der Interessenten schon gut Deutsch sprechen.»
Die Jobmesse ist der erste grössere Anlass, den das offizielle Deutschland vor dem Hintergrund eines Migrationsabkommens durchführt, das die deutsche und die kenyanische Regierung Mitte September unterzeichnet haben. Das Abkommen soll kenyanischen Fachkräften und Studierenden die Einwanderung nach Deutschland erleichtern, etwa indem Visaverfahren vereinfacht werden. In Deutschland sollen die Kenyaner helfen, den Fachkräftemangel zu beheben, den die Regierung auf 400 000 Stellen jährlich beziffert.
«Deutschland muss irgendwas richtig gemacht haben»
Das Interesse in Kenya, einem Land mit 55 Millionen Einwohnern und einer der grössten Volkswirtschaften in Afrika, ist tatsächlich gewaltig. Hoffnung auf Jobs in Deutschland geweckt hat bereits ein Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz im Mai 2023. Schon damals hiess es, Deutschland wolle neue legale Zuwanderungsmöglichkeiten für Fachkräfte schaffen. Seither ist die Nachfrage nach Deutschkursen in Kenya explodiert, Kurse und Prüfungstermine am Goethe-Institut in Nairobi sind teilweise einen Tag nach der Aufschaltung ausgebucht.
Auch das Interesse an der Jobmesse war riesig. 3000 Personen hatten sich angemeldet, die Hälfte von ihnen musste wieder ausgeladen werden, weil das Fassungsvermögen des Kongresszentrums nicht ausreichte. Vorträge, in denen Referenten über die Anerkennung von Diplomen und über Integration in Deutschland sprachen, wurden deshalb auch auf Facebook und Youtube übertragen.
Jene, die kommen durften, sind zum Teil von weit ausserhalb Nairobis angereist. Sie drängen sich an zwei Dutzend Ständen, an denen Vermittlungsagenturen, Firmen und Behörden ihnen eine Zukunft versprechen: «Dein Pfad nach Deutschland», steht auf Plakaten, «aufregende Arbeitsmöglichkeiten», «wir sind deine Brücke in die deutsche Gesundheitsindustrie».
Prexy Mwende, 25, und Domitila Kambua, 26, haben gerade Marcel Schwarz vom Bildungswerk der Bayerischen Wirtschaft zugehört. Die beiden haben im vergangenen Jahr ihre Pflegeausbildung abgeschlossen, nun sind sie auf Arbeitssuche wie Millionen junger Kenyanerinnen und Kenyaner.
«Deutschland ist ein hoch entwickeltes Land, das Pflegerinnen viele Chancen bietet», sagt Domitila Kambua. Sie glaubt, dass sie in Deutschland einfacher Arbeit finden wird als zum Beispiel in England, wo die Sprachbarriere wegfiele, aber wo in diesem Jahr die Regeln für die Einwanderung von Pflegerinnen verschärft wurden. Deshalb lernt Kambua nun seit einem halben Jahr mit einer Privatlehrerin Deutsch: «Ich liebe meine Familie», sagt sie in der neuen Sprache. «Tschüss», sagt Prexy Mwende neben ihr, und sie prusten los vor Lachen. Die beiden Pflegerinnen erhalten von ihren Deutschlehrerinnen auch kulturelle Tipps: «Augenkontakt im Gespräch ist wichtig in Deutschland», sagt Prexy Mwende.
Viele der jungen Messebesucher sind gut informiert über Deutschland. Donnell James zum Beispiel sagt: «Deutschland ist die viertgrösste Volkswirtschaft der Welt. Die müssen irgendwas richtig gemacht haben.» James ist 23, er hat vor kurzem ein Wirtschaftsstudium abgeschlossen. Nun möchte er im IT-Sektor arbeiten – und rechnet sich Chancen in Deutschland aus: «Deutschland ist im Technologiebereich fortgeschritten und hat in der Europäischen Union den grössten Bedarf an Fachkräften.»
400 000 Kenyaner arbeiten schon in den Golfstaaten
Für Kenyas Regierung ist das Abkommen mit Deutschland ein grosser Erfolg. Sie kann jungen Kenyanerinnen und Kenyanern Zukunftschancen versprechen, die im eigenen Land fehlen. Das Durchschnittsalter in Kenya liegt unter 20, eine Million junger Menschen stösst jedes Jahr auf dem Arbeitsmarkt dazu, doch nur jeder Zehnte findet formale Arbeit. Viele schlagen sich unfreiwillig als Kleinstunternehmer durch, etwa indem sie im Internet mit Kleidern oder Haarprodukten handeln. Taxifahrer in Kenya haben häufig Universitätsdiplome. In vielen afrikanischen Ländern ist die Situation ähnlich.
Kenyas Regierung ist zutiefst unbeliebt. Im Juni und Juli demonstrierten Hunderttausende im Land gegen eine politische Klasse, die viele für inkompetent, korrupt und gleichgültig gegenüber der Bevölkerung halten. Die Proteste waren getragen von derselben Generation, die sich nun an die deutsche Jobmesse drängt.
Für die Regierung von Präsident William Ruto ist deshalb jeder junge Kenyaner, der ins Ausland geht, eine unzufriedene Person im Land weniger. Dazu profitiert Kenya, wenn die Ausgewanderten Geld in Form von Rimessen schicken: Fast fünf Milliarden Dollar werden es in diesem Jahr sein. Kenyas Regierung fördert deshalb die Arbeitsmigration zum Beispiel in die reichen arabischen Golfstaaten, wo bereits mehr als 400 000 Kenyaner arbeiten, viele unter miserablen Bedingungen. Deutschland ist für viele Kenyanerinnen und Kenyaner ein attraktiveres Ziel.
Zahl von 250 000 Stellen «klar falsch»
Deutschland hat Migrationsabkommen bisher mit Indien, Georgien, Marokko und vor kurzem mit Usbekistan geschlossen. Kenya ist das erste Partnerland in Subsaharaafrika.
Für die deutsche Regierung ist das Abkommen mit Kenya ein Balanceakt. Sie will angesichts der Wahlerfolge der AfD nicht den Eindruck erwecken, massenhaft Arbeitsmigranten ins Land holen zu wollen. Als die kenyanische Regierung nach Unterzeichnung des Abkommens im September die Zahl von 250 000 Arbeitsplätzen verbreitete, die Deutschland für Kenyaner bereithalte, dementierte das deutsche Innenministerium auf X: Die Information sei «klar falsch». Das Abkommen beinhalte keine Zahlen oder Quoten dazu, wie viele Fachkräfte in Deutschland arbeiten könnten.
Tatsächlich zeichnet sich keine Migrationswelle aus Kenya ab. Aus dem Auswärtigen Amt heisst es, rund 160 Visa seien im dritten Quartal 2024 an kenyanische Fachkräfte vergeben worden; die meisten für Pflegekräfte und Auszubildende.
Die deutsche Regierung betont auch, ein wichtiger Teil des Abkommens sei die Kooperation bei Rückführungen ausreisepflichtiger Kenyaner. Allerdings ist Kenya als Herkunftsland von Migranten, die sich illegal in Deutschland aufhalten, vernachlässigbar. Asylanträge kenyanischer Staatsbürger machen nur 0,1 Prozent aller Anträge in Deutschland aus – im laufenden Jahr waren es bisher 234. Weniger als 100 Kenyanerinnen und Kenyaner halten sich illegal im Land auf – rund 750 wären ausreisepflichtig, haben aber eine Duldung erhalten.
«Rassismus ist meine grösste Sorge»
Auch in Kenya ist die Euphorie über das Migrationsabkommen nicht einhellig. Viele finden, die Regierung solle besser die Chancen im Land selber verbessern als möglichst viele Arbeitskräfte exportieren. Dazu tauchen bereits betrügerische Arbeitsvermittler auf, die jungen Kenyanern versprechen, gegen Geld eine Stelle in Deutschland zu vermitteln. Beim Goethe-Institut in Nairobi häufen sich die Berichte von Arbeitssuchenden, die umgerechnet Hunderte von Euro bezahlt haben, um dann nichts mehr von den angeblichen Vermittlern zu hören.
In Kenya gibt es auch Befürchtungen, kenyanische Fachkräfte, Studenten und Auszubildende könnten in Deutschland Ziel von Rassismus werden. Eine der grössten Zeitungen des Landes, «The Standard», schrieb: «Die Bevölkerung in Deutschland ist höchst unerfreut über die hohen Migrationszahlen im Land.» Die Zeitung zitierte Tweets von deutschen Accounts, in denen mögliche kenyanische Einwanderer als «Abschaum» und das Migrationsabkommen als «biologische Kriegsführung» bezeichnet wurden.
An der Messe in Nairobi sagt Donnell James, der Wirtschaftsabsolvent, der im IT-Bereich arbeiten möchte: «Rassismus ist tatsächlich meine grösste Sorge. Auf Tiktok sah ich, dass in Deutschland ein Lied trendete: ‹Ausländer raus›. Aber Herausforderungen gibt es immer, das stoppt mich nicht.»