Es war ein heißer Tag in Saigon – und auch jetzt, am frühen Abend, sind es noch fast 30 Grad. „Zeit für einen deutschen Drink“, sagt Bicky Nguyen lächelnd – und hebt den Aperol vor sich einmal hoch ins Bild. Aperol: deutsch? Sie kenne Aperol aus Deutschland, sagt die 36-Jährige. Aber er sei auch bei den Menschen in Vietnam sehr beliebt. Entspannte Stimmung also – vielleicht ganz gut, um die eher unheiteren Erfahrungen der vergangenen Wochen zu thematisieren.
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Frau Nguyen, sagt Ihnen der Name Markus Söder etwas?
Söder? Nein. Ich habe lange in England und den Niederlanden gelebt. Aber Deutsch spreche ich nicht.
Dafür scheint er Ihr Produkt zu kennen. Söder ist ein konservativer Regionalpolitiker aus dem Süden Deutschlands, Bayern. Er hat Angst, dass er künftig Grillen statt Fleisch essen muss. Das möchte er nicht. „Mir ist ein Schweinsbraten jedenfalls zehnmal lieber als ein Insektenburger“, hat er vor Kurzem in einer Rede gesagt.
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Hm. Hat er denn Insektenfleisch schon mal probiert?
Schwer zu sagen. Eher nein.
Vielleicht hatte er auch einfach noch keine Gelegenheit, die wissenschaftlichen Studien zum Klimawandel zu lesen. Und glücklicherweise hat ihm sein Arzt offenbar noch nicht raten müssen, weniger Fleisch zu essen. Jedenfalls im Ernst: Wir wollen niemanden einschüchtern oder Angst einjagen. Wir möchten einfach das beste nachhaltige Produkt schaffen. Ein Wandel der Essensgewohnheiten braucht natürlich Zeit. Aber vor 50 Jahren konnten sich in Europa auch nur wenige Menschen vorstellen, Shrimps zu essen. Vor 20 Jahren kam Sushi – roher Fisch! – vielen sehr fremd vor. Und Sie wissen ja, wie die Geschichte weiterging.
“Wir wollen niemanden einschüchtern”: Unternehmerin Bicky Nguyen in ihrer Grillenpulverfabrik am Rand von Saigon.
Quelle: Tinphung
Ein Arme-Leute-Essen aus Thailand
Frau Nguyen, im Januar erhielten Sie mit Ihrer Firma Cricket One als erste die Erlaubnis, Hausgrillen und Produkte daraus auf den EU-Markt zu bringen. Ihr Unternehmen gehört zu den größten Produzenten für essbare Insekten weltweit. Wie kam es dazu?
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Ich habe Cricket One 2017 mit einem Partner gegründet. Wir haben zuvor ein Tech-Start-up entwickelt, das Daten bereitstellte, um Bauern beim effizienten nachhaltigen Wirtschaften zu unterstützen. Aber dort hatten wir unsere Anteile verkauft. So trafen wir uns in einem Restaurant, um gemeinsam nach neuen Ideen zu suchen.
Und da wurden Ihnen Insekten serviert?
Tatsächlich, ja.
Sind in Vietnam Insekten denn ein gängiges Essen?
Nein, kaum. In Kambodscha oder Thailand zum Beispiel kommen sie häufig auf den Tisch, da sind sie ein Arme-Leute-Essen. Aber in Vietnam gibt es sie eigentlich nur vereinzelt in ländlichen Gegenden – oder als Delikatesse in teuren Restaurants in den Städten. Ich und mein Partner sind sehr an nachhaltiger Landwirtschaft und Ernährung interessiert, da kamen die Grillen als Idee gerade richtig. Wir saßen dann vier Stunden zusammen und haben nur über Insekten geredet. So fing es an.
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„Große soziale Bedeutung in den Dörfern“
Und so wurden Sie dann Grillenzüchterin?
Nein, wir haben mit der Hilfe von Investoren in Saigon eine Fabrik errichtet, die die Grillen zu Pulver verarbeitet. Hygiene ist uns dabei besonders wichtig, da gibt es keine Kompromisse. 60 Prozent der Grillen kommen von eigenen Farmen, der Rest von 35 Zulieferern, wir nennen sie Satellitenfarmen. Als Partner wählen wir da oft ältere Farmer aus – die Grillenzucht ist körperlich nicht so anstrengend und für sie oft eine gute Einnahmequelle. So hat die Zucht eine große soziale Bedeutung in den Dörfern, weil viele ältere Bauern sonst nicht gut verdienen und die Kinder, die sie versorgen müssten, entlastet werden.
Zentrale Farm von Cricket One in Vietnam: 45 Tonnen Grillen pro Monat.
Quelle: Nguyen
Und wie viele Grillen züchten Sie so?
Insgesamt produzieren wir so gut 45 Tonnen Insektenpulver im Monat, vor allem als proteinreichen Zusatz für Snacks und Gebäck, …
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… das Sie jetzt auch nach Europa exportieren.
Darauf sind wir extrem stolz! Dass wir landwirtschaftliche Produkte aus Vietnam in einen der am strengsten reglementierten Märkte weltweit exportieren, hat für uns hier eine große auch emotionale Bedeutung.
Wie aufwendig war der Zulassungsprozess?
Drei Jahre! Drei Jahre lang haben wir gebraucht, 150.000 Dollar hat uns das gekostet, für Labortests, klinische Studien, Anwälte, Berater und so weiter. Das war enorm aufwendig. Wir haben die Proben an internationale Labore mit Niederlassungen in Vietnam gegeben, aber sie auch in Deutschland, Frankreich, den Niederlanden und in China untersuchen lassen.
„Es wird niemandem etwas untergeschoben“
Andere Insektenarten sind in Europa schon länger zugelassen, aber Ihre Zulassung von Grillen löste in Deutschlands teilweise arge Abwehrreaktionen aus, wie die von Söder.
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Das ist natürlich absurd. Proteinpulver sind ein Inhaltsstoff, der deklariert werden muss, kein Zusatzstoff, der sich hinter einer E‑Nummer verbergen könnte. Es wird niemandem etwas untergeschoben.
Was kam von diesen Debatten bei Ihnen an?
Vor allem bekamen wir sehr viele Anfragen, vor allem aus Deutschland, Italien, Rumänien, Frankreich, den Niederlanden, da gab es viel Interesse. Aber das war nicht alles.
„Die Zulassung erschlichen? Absoluter Unsinn!“
Sondern?
Sehen Sie, ich habe Europa als sehr liberalen Kontinent kennengelernt. Aber nun gab es Verdächtigungen auch in Medien und von Bloggern, wir hätten uns die Zulassung erschlichen und da sei nicht alles mit rechten Dingen zugegangen. Was absoluter Unsinn ist. Die Leute zweifeln dann an ihren eigenen EU-Institutionen, sie dürften dann eigentlich gar nichts mehr essen. Wir selbst wurden nicht mal dazu befragt.
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Wurden Sie auch persönlich angegriffen?
Aber ja. Es hieß, man würde unsere Adresse veröffentlichen und unser Büro abbrennen. Man würde mich persönlich verbrennen, bei lebendigem Leib. Wir seien Illuminaten, also Verschwörer, die Tätowierungen hätten wir unter den Füßen, am Kopf und sonst wo. Es gab Steckbriefe mit unseren Bildern. Es gab auch antisemitische Beleidigungen, wir seien kontrolliert von irgendwelchen jüdischen Investoren, die die Welt beherrschen wollten. Es gab auch sexistische Beleidigungen, die ich jetzt gar nicht wiederholen mag. Und ich könnte noch lange so weitermachen.
„Ich kann darüber lachen – weil es so absurd ist“
Woher kam so was hauptsächlich?
Um ehrlich zu sein: Vieles kam aus Deutschland.
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Was bewirken solche Bedrohungen bei Ihnen?
Sie sehen: Ich kann darüber lachen. Weil es so absurd ist. Aber es enttäuscht mich auch. Es hat einfach nichts zu tun mit dem Europa, das ich mag und das wir hier schätzen. Ich habe bis vor drei Jahren in den Niederlanden gelebt, in Den Haag. Ich dachte, ich kenne Europa ganz gut. Aber da hat sich etwas verschoben.
30 Prozent der Menschen können sich vorstellen, Insekten zu essen
Glauben Sie, dass die Menschen in Grillen irgendwann ein normales Lebensmittel sehen?
Nun, wir wissen aus Umfragen, dass 50 Prozent der Bevölkerung Insekten als Nahrungsmittel ablehnen. 20 Prozent finden es gut, 30 Prozent sind unentschieden. Um diese 30 Prozent geht es uns, sie würden wir gern überzeugen, dass sie ein nachhaltiges, gesundes Essen sind.
Wie geht es bei Ihnen weiter?
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Im Juli eröffnen wir eine zweite Fabrik, dann können wir noch weit mehr produzieren, vor allem auch für Europa. Dort machen wir schon jetzt fast die Hälfte unseres Umsatzes.
Das Leben und wir
Der Ratgeber für Gesundheit, Wohlbefinden und die ganze Familie – jeden zweiten Donnerstag.
Ingwerkekse mit Grille: „Die Kinder lieben sie“
Gab es bei Ihnen heute schon Grille?
Klar, ganze Grille mit Wasabi-Geschmack. Aber ideal finde ich sie als Topping auf Salat.
Und Ihre Kinder?
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Mein Sohn ist eineinhalb und hat eine Menge Allergien, da bin ich im Moment noch zurückhaltend. Aber für die Kindergartenfeier meiner dreijährigen Tochter habe ich neulich Ingwerkekse gemacht, mit 15 Prozent Grillenpulver. Da habe ich auch vorsichtshalber im Kindergarten zuvor Bescheid gesagt.
Die Kinder mochten sie?
Sie haben sie geliebt. Aber der Geschmack ist ja auch sehr neutral. Ehrlich gesagt, haben sie wahrscheinlich gar nicht gemerkt, dass Grille drin war.