Für zehn Euro eine Überraschung am Mystery-Automaten

Für zehn Euro eine Überraschung am Mystery-Automaten

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Große Nachfrage: Der Mystery-O-Mat mit Retouren am Freiburger Hauptbahnhof. © Ingo Schneider

Päckchen mit unbekanntem Inhalt aus dem Automaten – da entwickelt sich offenbar ein neuer Hype. Eine Lösung für das gewaltige Problem der Retouren im Onlinehandel ist das Konzept nicht.

Am Hauptbahnhof in Freiburg spielen sich seltsame Szenen ab: von langen Warteschlangen vor einem unscheinbaren Automaten wird berichtet. Seit vor einigen Wochen im dort ansässigen Automatensupermarkt ein „Mystery-o-Mat“ aufgestellt wurde, ist das Geschäft, in dem rund um die Uhr eingekauft werden kann, das Ziel vieler Menschen. Der Grund: An dem ursprünglich als Snackautomat gebauten „Mystery-o-Mat“ kann man keine Sandwiches, Limos oder Schokoriegel ziehen, sondern Retourenpakete, Inhalt unbekannt – und genau das macht die Sache offenbar so spannend.

Mystery-Shopping: Zehn Euro für eine Überraschung am Automaten

Von ganzen Reisegruppen, die nur wegen des neuen Automaten kämen und dann das gemeinsame Öffnen der Pakete zum Event macht, erzählt Ladenbetreiber Andreas Kaiser der herbeigeeilten Presse. Verkauft werden hier ausschließlich Pakete und Päckchen, die nicht zugestellt werden konnten oder in den Postfilialen nicht abgeholt wurden. Zehn Euro kostet einmal überraschen. Vom Bikini bis zur Smartwatch kann alles drin sein; manchmal hat man Glück, manchmal nicht.

Mystery-Shopping nennt sich das zugrunde liegende Prinzip, das auf den Reiz des Unbekannten setzt und das auch Onlineplattformen wie Amazon nutzen, um ihre ansonsten nicht mehr verwertbaren Retouren doch noch irgendwie an den Mann oder die Frau zu bringen.

Das ist grundsätzlich auch dringend nötig, denn die Zahl der Retouren im Onlinehandel ist – auch getrieben durch die Folgen der Corona-Pandemie – unglaublich hoch. Nach Berechnungen der Forschungsgruppe Retourenmanagement der Universität Bamberg ging 2021 hierzulande fast jedes vierte Paket (24,2 Prozent) im E-Commerce an die Händler zurück. Schätzungsweise 530 Millionen Retourensendungen wurden transportiert, in denen rund 1,3 Milliarden Artikel enthalten waren. 2018 waren es noch 280 Millionen zurückgeschickte Pakete mit 490 Millionen Artikel. Das geht aus dem Europäischen Retourentacho, European Return-o-Meter 2022 (Eurom), hervor, den die Fachleute aus Bamberg zusammengestellt haben.

Zurückgeschickte Pakete können fast immer als „neuwertig“ verkauft werden

Und die Zahlen sind seitdem nicht gesunken. Im Gegenteil. Laut dem Bundesverband Paket- und Expresslogistik wurden 2023 in Deutschland rund 4,2 Milliarden Sendungen verschickt, ein Plus von 0,6 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Folgt man den Berechnungen der Studie, wären das rund eine Milliarde zurückgesendeter Pakete mit einer noch schwindelerregenderen Zahl an Artikeln.

Dabei war Deutschland schon 2021 Retoureneuropameister. „Über alle Warencluster hinweg wurden in Deutschland die höchsten Retourenquoten beobachtet“, heißt es dazu im Eurom 2022. Knapp dahinter folgten die Schweiz und Österreich.

Im Schnitt konnten laut dem Bericht 93,2 Prozent der zurückgeschickten Artikel als „neuwertig“ weiterverkauft werden. Der Anteil der durch die Onlinehändler „entsorgten“ – sprich: vernichteten – Retouren sei geringer als gedacht gewesen; er habe 2021 bei 1,3 Prozent gelegen. Das „darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass in absoluten Zahlen 2021 trotzdem schätzungsweise 17 Millionen retournierte Artikel entsorgt wurden“, schreibt die Forschungsgruppe.

Mystery-Shopping: Ein Trend auf TikTok ist es schon

Sind Automaten mit sogenannten „Mystery-“ oder „Secret-Packs“ also eine innovative Idee, die helfen kann, dass weniger Ware vernichtet werden muss? Die Vermarktung mit dem „Mystery-O-Mat“ funktioniert jedenfalls nicht nur in Freiburg. Verschiedene Betreiber haben die Publikumsmagneten auch schon in anderen Regionen Deutschlands aufgestellt, etwa in Köln, Hannover, im Allgäu und in Thüringen. Sie kaufen die Pakete bei auf Retouren spezialisierten Großhändlern, befüllen die Automaten und freuen sich über den reißenden Absatz. Die Päckchen unbekannten Inhalts kosten je nach Größe meist sechs bis acht Euro. Die Gewinnmarge pro Paket bleibt ein Geheimnis, unterm Strich dürfte das Geschäft aber äußerst lukrativ sein – zumal sich die Überraschung aus dem Automaten inzwischen zu einem Tiktok-Hype entwickelt hat. Menschen allen Alters filmen sich dabei, wie sie ein Paket ziehen und gespannt öffnen.

Konstantinos Vasiadis hat dazu eine klare Meinung. „Die Automaten lenken die öffentliche Aufmerksamkeit auf das Problem der Retouren. Das ist erst mal positiv, denn es muss dringend etwas geschehen“, erklärt der Chef der Elvinci.de GmbH aus Nürnberg, ein Großhändler für Retouren und Experte für Retourenmanagement, im Gespräch mit der FR. Ein Lösungsansatz sei das aber ganz sicher nicht. „Die Mengen, von denen wir hier sprechen, fallen nicht ins Gewicht“, sagt Vasiadis milde lächelnd, der sein Geschäft „The dark side of e-commerce“, die dunkle Seite des Onlinehandels, nennt. Zudem wisse man nicht, wie viele der Überraschungspakete am Ende doch im Müll landeten und die Umwelt belasteten – das sei eben eine Überraschung. Ein Argument, mit dem auch die Verbraucherzentrale vor Mystery-Shopping warnt.

Kosten für Paketzustellung steigen – KI als Lösung?

Der diplomierte Physiker sieht vielversprechendere Lösungsansätze für das Retourenproblem: die Vermeidung und die Optimierung der Verwertung. Für beides hat sein Unternehmen, in dem täglich fünf Lkw-Ladungen voll „Weißer Ware“ und Unterhaltungselektronik zur Weitervermarktung anrollen, seit vergangenem Jahr ein Angebot: Retourenmanagement als Dienstleistung. „Für den Händler macht es nur dann Sinn, die Ware noch einmal in die Hand zu nehmen, wenn der Wert der Retourenware die Kosten, die sie verursacht, übersteigt“, erklärt Vasiadis.

Größte Kostenposten seien der Transport und die Logistik. „Es gibt nur begrenzte Transport- und Lagerkapazitäten, wenn die für Retouren verwendet werden, ist das unwirtschaftlich.“ Deshalb hat Elvinci.de eine ganze Serie von teils KI-gesteuerten Softwarelösungen entwickelt, die genau hier greifen. Die Ware wird, wenn sie ankommt, per App klassifiziert und mit einem Preisvorschlag versehen, eine KI schnürt für die abnehmenden Retourenhändler die für sie passenden Pakete, eine weitere App ist für die optimale Palettierung zuständig und der Computer sorgt dafür, dass die Lkws, die wieder vom Hof rollen, bis auf den letzten Zentimeter vollgepackt sind. „Die Digitalisierung schafft eine enorme Kostenersparnis und ist auch sehr wichtig für den Klimaschutz“, sagt Vasiadis.

Laut Eurom 2022 betrug der Mittelwert pro retournierter Sendung von jenen Unternehmen, die den Fußabdruck messen, rund 1500 Gramm CO₂-Äquivalente. „Unterstellt man dieses Szenario, gehen auf die Retouren 2021 in Deutschland geschätzt 795.000 Tonnen CO₂-Äquivalente zurück“, so die Berechnungen. Die emittierte Menge entspräche dann 5,3 Milliarden Kilometer mit dem Auto (bei 150 Gramm CO₂-Äquivalenten pro Kilometer). Dabei ist auch bemerkenswert: Mehr als 80 Prozent der befragten Händler gaben an, dass ihr Unternehmen den ökologischen Fußabdruck gar nicht erfasse.

Verbraucher sollten schon beim Kauf erfahren, was mit der Retoure passiert

Man müsse auch dort ansetzen, wo das Kind in den Brunnen falle, sagt Vasiadis. Also beim Neukauf der Ware. Seinen Lieferanten bietet Elvinci.de im Rahmen des Retourenmanagements Unterstützung bei der Vermeidung von Retouren an. Dabei geht es vor allem um die genaue Beschreibung der Ware, Bilder, eventuell auch Videos, um den Verbraucherinnen und Verbrauchern fundiertere Kaufentscheidungen zu ermöglichen. Zudem wünscht sich Vasiadis eine bessere Information der Kundschaft hinsichtlich des Umgangs mit Retouren. „Schon beim Kauf sollten die Kunden darüber aufgeklärt werden, was mit der Ware geschieht, wenn sie zurückgeschickt wird.“

Lange Rückgabefristen von 100 Tagen wie sie zum Beispiel Händler wie Zalando einräumen, findet der Retourenexperte wenig hilfreich. Tatsächlich gewähren die Händler in Deutschland im europäischen Vergleich sehr liberale Rücksenderegeln. Die durchschnittliche Frist hierzulande beträgt laut den Berechnungen der Uni Bamberg 53,5 Tage, im Rest der EU sind es nur 29,6 Tage.

Und dann ist das Ganze auch noch überwiegend kostenlos. Vasiadis plädiert dafür, einen symbolischen Betrag für die Retoure zu berechnen. „Ein Euro pro Retoure, das tut nicht weh, hilft aber vielleicht dabei, noch mal genauer zu überlegen, ob man die Ware wirklich bestellen will.“ Um das Problem mit den Retouren in den Griff zu bekommen, müssten auch die Verbraucherinnen und Verbraucher mehr Verantwortung übernehmen und „bewusster“ einkaufen.

Ein Gedanke, der am „Mystery-o-Mat“ so gar keine Rolle spielt. Die Automaten-Kundschaft ist von ihrem Überraschungspaket beglückt oder enttäuscht, unterm Strich aber immer begeistert. Was danach mit den Waren geschieht, interessiert – zumindest bislang – niemanden.

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