Nach Shein und Temu steht der nächste Onlinehandel-Disruptor aus China in den Startlöchern: Tiktok Shop. Zwar wurde der für diesen Sommer geplante Deutschland-Launch kurzfristig verschoben, aber in den USA und Großbritannien zeigt sich: Tiktok Shop mischt den Markt auf. Mit einem Geschäftsmodell, das das Beste aus zwei E-Commerce-Welten verbindet. Eine Analyse des Etailment-Experten und Spryker-CEO Alexander Graf.
1,6 Milliarden Menschen nutzen Tiktok, davon 20 Millionen allein in Deutschland – da ist es nur logisch, diese Reichweite auch für das Thema Shopping zu nutzen. Seit vergangenem September lassen sich in der US-amerikanischen Version von Tiktok Produkte direkt kaufen. Wenig später wurde die Funktion auch in Märkten wie Großbritannien und Indonesien in die Kurzvideo-App integriert. Im laufenden Jahr sollen über Tiktok Shop Waren im Wert von 50 Milliarden US-Dollar gehandelt werden.
In diesem Sommer sollte Tiktok Shop auch nach Deutschland kommen – allerdings hat der Mutterkonzern Bytedance den Launch in mehreren europäischen Ländern kurzfristig verschoben. Auf unbestimmte Zeit. Aus der Branche ist zu hören, dass man sich zunächst vor allem auf den US-Markt konzentrieren will. Dennoch ist zumindest ein Spanien-Start noch in diesem Jahr wahrscheinlich, Deutschland folgt dann vermutlich 2025.
© IMAGO / Pond5 Images
Nach den USA nimmt Tiktok Shop den europäischen Markt ins Visier.
Das Beste aus zwei Welten
Unabhängig vom genauen Start-Termin: Die Chancen stehen gut, dass Tiktok Shop auch hierzulande ein Erfolg wird. Dank eines besonderen Ansatzes, der das Beste aus zwei Welten verknüpft: die Innovationskraft asiatischer Herausforderer wie Temu oder Shein und die Stärken und Vertrauenswürdigkeit etablierter Player wie Amazon.
Anders als Temu oder Shein, die primär als direkte Schnittstellen zu chinesischen No-Name-Herstellern fungieren, konzentriert sich Tiktok Shop darauf, zum Anbieter bestehender Marken aus dem Westen zu werden. Daher wurden in den vergangenen Wochen bereits vielfach die Fühler ausgestreckt. Tiktok spricht sehr aktiv Marken hierzulande an, die heute im eigenen Onlineshop oder über Amazon, Kaufland, Otto und Co. verkaufen.
Die Strategie, auf etablierte Verkäufer zu setzen, hat Tiktok in China bereits zum Erfolg geführt, wo die Schwester-App Douyin 2023 ein Bestellvolumen von 285 Milliarden Dollar erzielt hat. Ein Zuwachs von 40% gegenüber dem Vorjahr.
Kurzfristige Chance, langfristiges Risiko
Für Marken ist der Start auf Tiktok Shop sehr attraktiv. Durch seine globale Reichweite und Bekanntheit ist Tiktok Shop für Brands und Kunden vom ersten Tag an nicht nur reizvoll, sondern auch vertrauenswürdig. Damit wird der Wettbewerbsdruck für die etablierten Player schlagartig noch deutlich größer.
Brands, die ohnehin Werbung auf der Kurzvideo-Plattform schalten, können die direkte Konvertierung nutzen, um ihre Verkaufszahlen zu steigern. Zumal es zu Beginn von Tiktok hierzulande sicher einen günstigen Reichweiten-Boost geben wird, um das neue Feature zu integrieren.
Allerdings birgt dieser Ansatz auch Risiken. Langfristig könnten Marken in die Abhängigkeit von Tiktok geraten und gezwungen sein, den Kundenzugang teuer zurückzukaufen – ein Szenario, das bereits von Amazon bekannt ist, wo die Auktionen um die prominentesten Produktplatzierungen zu immer höheren Preisen führen.
Eine neue Realität im Onlinehandel
Fashion- und Lifestyle-Marken zum Beispiel stehen vor einer spannenden neuen Herausforderung. Bisher auf Plattformen wie Amazon, Zalando und Otto vertreten, müssen sie nun ihre Marketing- und Verkaufsstrategien an die neue Realität von Tiktok Shop anpassen. Der neue Wettbewerbsdruck und die aggressiven Konditionen von Tiktok könnten dieses Vorhaben erheblich erschweren. Gleichzeitig droht auch eine Gefahr für das Shopify-Ökosystem, da kleine Shops nun eine neue, möglicherweise bessere Infrastruktur bei Tiktok Shop finden.
Für größere E-Commerce-Systeme stellt sich die Frage, wie sie strategisch mit Tiktok Shop umgehen. Grundsätzlich könnten sie es als „neues“ Frontend ausspielen und dort Produkte anbieten, die sie bisher nur im eigenen Shop angeboten haben.
Das führt aber zu der Frage: Wem gehören die Kunden? Diese Frage wurde in den letzten zehn Jahren fast immer zum Vorteil der Marktplätze – allen voran Amazon – beantwortet. Ich gehe aber davon aus, dass die meisten B2C-Unternehmen bei Tiktok Shop mindestens experimentieren, solange die Marketingkosten deutlich niedriger sind.
Um auf Tiktok Shop erfolgreich zu sein, müssen Marken in der Lage sein, kontinuierlich hochwertigen Content zu produzieren. Anpassungsvermögen und die Fähigkeit, auf neue Tiktok-Trends schnell zu reagieren, sind essenziell.
Marken, die bereits eine starke Direct-to-Consumer-Strategie verfolgen und genau wissen, wie sie Kunden über verschiedene Kanäle zu geringen Akquisitionskosten gewinnen, werden die größten Profiteure sein. Insbesondere Shops großer Influencer-Marken, die bereits eine hohe Konvertierungsrate haben, werden von Tiktok Shop profitieren.
Ausblick
Tiktok Shop könnte die E-Commerce-Landschaft durcheinanderwirbeln, indem es neue Mechanismen des Kundenzugangs schafft und den ohnehin schon heißgelaufenen Wettbewerb im Onlinehandel weiter verstärkt.
Trotz der Verzögerung in mehreren europäischen Ländern ist zu erwarten, dass die App schnell relevante Marktanteile gewinnt und möglicherweise schon bald zu den Top 10 der deutschen Onlineshops zählt. Für Marken bietet sich eine einzigartige Gelegenheit, frühzeitig davon zu profitieren und sich im digitalen Handel zu etablieren. Gleichzeitig müssen sie jedoch Strategien entwickeln, um langfristig unabhängig und erfolgreich zu sein.